Spitzmauer-Ostwand: Sie ist und bleibt ein Traum

SPITZMAUER-OSTWAND: DIESE GENIALE LINIE UNSERES TALBEHERRSCHENDEN BERGES HABEN IM WINTER ERST WENIGE VERSUCHT, NOCH WENIGER GESCHAFFT UND LÄSST UNS WENIG RUHE: 200 METER FEHLTEN IM ZWEITEN VERSUCH.

Entschuldigt, lieber Priel und Pyhrgas: Die Spitzmauer ist unser heimatlicher Lieblingsberg. Ein spitzer Berg, ein schicksalsträchtiger, ein spezieller. Er begleitet uns seit den ersten Schritten ins Gebirge. Wie oft haben wir vom Prielschutzhaus die Sonne nach berauschten Nächten in ihrer wunderschönen Wand aufgehen sehen? Wie oft haben wir uns schon hinauf geplagt zum eisernen Edelweiß auf 2442 Metern – über unterschiedlichste Kletter-Wege und Routen? Die Spitzmauer ist ein Traum – und von einer Winter-Begehung ihrer Ostwand träumen wir schon seit vielen Jahren.

Spitzmauer und Priel
Der Annäherungsversuch: Vor fünf Jahren hatten es Marlies und Eddi erstmals versucht – und im untersten Wanddrittel festgestellt: Das wird heute nix. Das wird heuer nichts. Wird das jemals was? Wie müssen die Verhältnisse sein, dass ein Durchstieg für uns Normalsterbliche möglich wird? Die Tatsache, dass wir nicht einmal eine Hand voll Menschen nennen können, die diese Wand im Winter durchstiegen haben (einer hat sie dafür sogar teilweise befahren, Chapeau: Heli Steinmassl), erhöht für uns den Reiz. Ein bisschen Himalaya-Feeling in Hinterstoder – nur ein paar Kilometer entfernt von uns.
Die Jahre verstreichen, schneearme Winter lassen die Idee erst gar nicht aufflackern, doch die Augen suchen und mustern stets die Spitzmauer, wenn wir in der Pyhrn-Priel-Gegend unterwegs sind, so wie sie das Matterhorn in den Westalpen gierig suchen.
Alle guten Dinge sind…
Der zweite Versuch: Am Samstag flogen wir mit unseren Skiern und dem Gleitschirm zum Großen Priel aus – und im Zustieg flammte die Idee wieder auf. Sie stand so mächtig vor uns! Mit so richtig viel Schnee in den beiden markanten Rinnen. Welche könnten wir wählen? Wie würden wir darin vorankommen? Welche Verhältnisse antreffen? You never try, you never know…
„Wenn ihr die Spitzmauer versucht, wehe, ihr sagt mir das nicht.“ Eddis Worte im Ohr, schickten wir ihm die Wandbilder und unseren Plan: Am Montag legen wir los. Für dieses Projekt nimmt er sich kurzerhand frei. Mitten in der Nacht starten wir in unseren Tag X. Bei der Klinseralm um fünf Uhr früh hinterfragen wir die Idee, die in unseren Köpfen lichterloh brennt.

???
Ist das wirklich schlau? Die Temperaturen in der Nacht waren (zu?) hoch – sie lagen um Null, nur leicht darunter. Der Schnee ist nicht gefroren, was für einen schnellen und sicheren Durchstieg hilfreich bis lebensnotwendig wäre. Doch könnte es nach oben besser werden? Was erwartet uns dort oben überhaupt? Vielleicht sogar Pulverschnee?
Selten stellt uns eine Tour vor so viele Fragezeichen. Eine Antwort kann uns niemand geben. Wir gehen weiter. Sonst werden wir nie etwas über diese Wand lernen.

Die Wand steilt sich bald auf.
EIN METER, EINE MINUTE
Mit jedem Höhenmeter wird es besser. Und steiler. Die Skier landen auf unserem Rücken nahe einer Höhle, in der Heli Steinmassl bei seinem erfolgreichen Wand-Durchstieg biwakiert hatte. Andi geht voraus – und wir glauben an dieser Stelle zum ersten Mal: Das wird heute wieder nichts. Ein Latschenrücken wird zur anstrengenden Wühlerei. Andi bastelt sich nach oben, knapp an der Grenze zum Unwohl-Sein, eine Minute für einen Meter. Die Sonne zeigt sich währenddessen am Horizont – du auch da?

Dieser Sonnenaufgang ist ein Burner. Feuerrot auch ohne Photoshop!
Wühlmaus. Jeder Meter vorwärts dauert etwa eine Minute.
Wie, du auch da? Hättest dem Wetterbericht doch versprochen, dich erst nach Mittag blicken zu lassen!?
Spurenlese. Bei Andi und Eddi ist’s hier knietief, bei Marlies fast hüfttief. Komisch.
Führungswechsel. Geht gut voran!
Die erste Hürde war genommen – und der mittlere Wandteil lässt uns aufatmen. Hier kommen wir richtig gut voran! Voll auf das Stapfen konzentriert, machen wir Meter um Meter. Allmählich tauschen wir die Skistöcke mit den Eisgeräten, montieren die Steigeisen an unsere Beine. Macht Spaß, in dieser Steilwand so gut vorwärts zu kommen!

Hinein in die linke Rinne
Wir steuern die linke Ostwandschlucht an – im Sommer eine leichte alpine Kletterei im zweiten bis dritten Schwierigkeitsgrad. Heute ist sie gut gefüllt mit Stapfschnee (gut), teilweise Triebschnee (nicht so gut). Vor der ersten Engstelle packen wir unser Seil aus. Andi steigt vor – und stößt für ihn doch überraschend auf steiles Eis. Lässt sich super klettern, auch eine Eisschraube setzen. Hier ein Keil in den rechten Fels gelegt, dort ein Felsen freigebuddelt und ein zweiter untergebracht. Doch die Suche nach sicheren Standplätzen gestaltet sich schwierig. Wieder ein Keil, ein Friend – und weiter geht’s.

Unsere Linie
NICHTS. WIE. WEG.
Die Sonne strahlt kurz in die Rinne – wir freuen uns immer auf sie – nur heute nicht. Kleinere Spindrifts kommen von oben – und wir hier in der Schusslinie. Gut 100 Meter sind wir im engen Teil der Rinne bereits geklettert, 200 liegen noch vor uns, der Schatten ist zwar zurück gekehrt, aber wir fühlen uns wie: In einer Mausefalle. Was, wenn eine Wechte bricht? Uns als Sonnengruß von den umliegenden Steilfelsen Schneerutscher entgegen donnern? Wir beginnen zu denken – und zu handeln. Nichts. Wie. Weg.

Der Haken an der Sache
Für einen angenehmen Rückzug ist diese Rinne nicht gemacht. Weder im Sommer noch im Winter. Wir schlagen einen Haken, setzten einen Keil und Friend – und seilen uns daran einmal 50 Meter ab. Andi nimmt das Material mit, er klettert zu uns ab, wo wir ihn an einem zweiten Felsblock sichern, an dem wir kreativ werden müssen. Hier versenken wir beide Haken – und seilen uns über die Eisstufe aus der Gefahrenzone. Das 60-Meter-Seil und die beiden Haken lassen wir zurück. Ein Materialverlust, mit dem wir leben müssen (und können).

Abseilakt. Unser Seil opfern wir gerne, um heil wieder rauszukommen.
Der weitere Rückzug ist auch nicht geschenkt.
Hier fühlen wir uns wieder sicher – weg aus der Schusslinie.
Sind wir wirklich so weit aufgestiegen? Die Einser-Frage im Rückwärtsgang.
Schöne Aussicht: Der Südgrat verbindet die Spitzmauer mit dem Ostrawitz.
So geht’s auch: Marlies stapft in der Spur zurück, Eddi schnallte sich die Skier an. Sein Kommentar: „Einmal, nie wieder.“
Mit Skiern durch die (untere) Ostwand
Es brauchte seine Zeit, bis wir tief durchatmen konnten. Eddi schnallte bereits noch am Seil gesichert seine Skier an – ein wagemutiges Unterfangen. Knapp 60 Grad dürfte es steil gewesen sein. Der untere Teil ließ sich halbwegs gut befahren, urteilte er – wir blieben auf den Steigeisen. Mitten in der Wand auf die Skier umzusteigen, das hielten wir für keine so gute und effektive Idee.

„Alles gut bei dir?“
Ab der Höhle waren auch wir wieder auf Skiern unterwegs und fuhren übers Klinserkar ab. Unser Plan wäre gewesen, von der Spitzmauer über die Meisenbergrinne und Dietlhölle zurück nach Hinterstoder zu fahren. Was uns jetzt erwartete, war noch einmal richtig mühsam: Den Wanderweg zur Polsterlucke zu befahren. Der besteht aus: Dichtem Wald, steiler Wand, engem Weg. Kurz macht sich Marlies Sorgen, als sie auf einen einzelnen Ski-Bergsteiger stößt. Er robbt auf allen Vieren, legt sich auf seinen Bauch, macht nur langsam Meter. Ist er verletzt? „Ist wohl ein Tscheche“, denkt sie sich insgeheim und fragt auf hochdeutsch: „Ist alles okay bei dir? Kann ich dir helfen?“ Die Antwort überraschte: „Na, i bin nua goa. Woa heid am Großen Prü.“
SCHNAPS-IDEE
Mit einem riesigen Erfahrungsschatz kommen wir gut zurück ins Tal. In der gemütlichen Bar „Fleischerei“ bestellen wir uns drei Schnaps. Und blicken künftig mit neuen Augen auf die Spitzmauer.

Credits:
www.hochzwei.media/Andreas Lattner und Marlies Czerny

Einen Augenblick bitte…