Grande Finale

Alle 82 Viertausender der Alpen: Marlies‘ letzte drei Gipfel waren eine so große Hürde, die uns zwischendurch nicht mehr möglich erschien. Wie es doch zum Happy End auf dem Brouillardgrat kam.

Die wichtigste Nachricht zuerst: Abbiamo fatto! Wir haben es geschafft, Marlies durfte auf ihrem 80., 81., 82. und somit letzten Viertausender der Alpen stehen; wir sind erleichtert und super glücklich, nicht nur oben gewesen zu sein, sondern vor allem wieder gesund im Val Veny anzukommen. Bis zum Happy End war es nämlich eine Riesen-Herausforderung für Körper und Geist. Der gesamte Brouillardgrat (Brouillard Intégrale) forderte uns einiges ab. Bitte tief Luft holen und höchste Vorsicht, dieser Grat wird ein schmaler und langer sein mit vielen Drehungen und Wendungen.
All-Inclusive-Urlaub
Die Geschichte von Marlies‘ letztem Viertausender beginnt wie jene von ihrem Ersten sechs Jahre zuvor. Mit einer großen Portion Neuschnee mitten im August. So stellt man sich doch einen Sommerurlaub vor – oder etwa nicht?

Ein schöner Sommerurlaub. Nicht.

Kurz fragt sie sich, warum sie denn All-Inclusive-Urlaube am Strand nicht mehr lohnenswert findet. War früher doch auch ganz nett. Denn das jetzt? Bei unserem hoch gelegenen Urlaubsziel gibt’s Schnee und Minusgrade – diese Verhältnisse dürften die Sache nicht einfacher machen… Selber ausgesucht, kein Mitleid.
Alles inklusive ist heute nur, was in unserem Rucksack Platz hat. Und weil wir keine Speedkletterer sind, sind das rund 15 kg Gewicht pro Rücken (auf Andis Schultern lasten ein bisschen mehr). Der Brouillard Intégrale ist eine Himmelsleiter, bei der man die erste Sprosse schon am Talboden betritt und diese Gratlinie bis zum Mont Blanc nicht mehr verlässt. 3500 Höhenmeter und sieben Kilometer Luftlinie liegen bis zum höchsten Punkt der Alpen vor uns. Keine Hütte und keine Biwakschachtel bietet Komfort auf diesem weiten Weg, der nie einfach ist. Eine gewaltige und ehrliche Linie, die uns einfach begeistert.

Die letzten drei Viertausender

Der gesamte Brouillardgrat verbindet insgesamt fünf Viertausender, darunter auch jene drei von den 82 Alpen-Giganten, auf denen Marlies noch nie gestanden ist: Punta Baretti (4013 m), Mont Brouillard (4063 m) und Pic Luigi Amedeo (4469 m). Es sind die wohl entlegensten Viertausender und haben zugegebenermaßen nur noch etwas mit einer Sammlerleidenschaft und Abenteuergeist zu tun. „Wie im Himalaya“ beschreiben jene Bergsteiger, die in diesem Eck vom Mont Blanc bereits unterwegs waren. Das sind nicht viele.

Fernab der Zivilisation.
Es ist: 10 vor 12

Ein Sprung nach vorne: Es ist Samstag, 12. August, kurz vor Mittag. Seit halb fünf Uhr früh sind wir unterwegs und haben mit unseren schweren Rucksäcken bereits 1600 Höhenmeter hinter uns gebracht. Wir stehen etwa 3200 Meter über dem Meer und beschließen: Wir drehen um! Das Projekt ist auf Eis gelegt. Wir sind uns zu unsicher. Auf dem mit Neuschnee bedecktem Fels gleicht jeder Schritt einem wie auf rohen Eiern. Wollen wir das wirklich für den Rest des Tages? Und mindestens noch einen weiteren Tag? Kommen wir so sicher und schnell genug voran? Nebel verhüllt den Weiterweg. Hier auf dem ersten von unübersichtlich vielen Grattürmen der Aiguilles Rouges du Brouillard stehen wir vor dem Point of no Return. Der Rückzug wird zwar mühsam, aber er ist noch möglich.

Aussichtslose Rutschpartie. So macht Klettern keinen Spaß.

Weil wir noch Zeit über Zeit haben, legen wir in einer windgeschützten Nische eine Mittagspause ein, mampfen das übrige Stück Pizza vom Vorabend und sehen dem Schnee beim Schmelzen zu. Schmelzen…!? Ein Stichwort! Wenn wir hier biwakieren und auf Besserung warten…?

Pizza-Pause. Zu diesem Zeitpunkt sind wir uns einig: Wir drehen um.

Der Himmel schickt zwei Hoffnungsträger
Wie aus dem Nichts kommt nach einiger Zeit auf dieser (für ihre Einsamkeit bekannten) Tour eine zweite Seilschaft daher. Wir reiben unsere Augen. Gibt’s denn das? Oh ja! Die beiden Franzosen sagen uns, eine Stunde hinter ihnen käme sogar noch eine weitere Seilschaft. Neue Hoffnung. Neue Spuren. Dazu ein auftrocknender Fels, auf dessen nassen Flechten vorhin noch so unangenehm zum Klettern war. Ohne vieler Worte sind wir uns beide einig:
Wir geben noch nicht auf!
Rückzug vom Rückzug. Wir genießen die Kletterzüge im trockenen Granitgestein, machen Meter. So macht das Klettern zwischendurch nicht nur Sorge, sondern auch Spaß. Und trotzdem: Immer wieder kommen uns heikle Passagen unter die Sohlen und so gruselige Gedanken in den Kopf wie: Wenn dir jetzt ein Fuß wegrutscht, dann war’s das? Wir berechnen unabhängig voneinander die Flugbahnen, wo wir hinstürzen würden und hart aufschlagen.

Frieren statt Feiern

Die Sorgen sind nur von kurzer Dauer. Sie haben hier keinen Platz. Wir wissen, dass jeder Schritt und Tritt sitzen muss, geben alles dafür, diese Tour möglichst sicher zu meistern. Der Weg über die Türme der Aiguilles Rouges gleicht einer Sisyphusarbeit. Nach fast 16 Stunden sind wir auf rund 3600 Meter Höhe angelangt. Wir treten uns in der Dämmerung ein kleines Fleckerl Schnee in einem Felsaufschwung zurecht, fixieren die Zeltplane mit unseren Stöcken, löffeln eine warme Suppe und frieren in nassen Socken durch die Nacht. Wie war das nochmal mit dem All-Inclusive-Urlaub am Strand?

Ein Bett im Schneefeld.

Packen wir’s wieder! Nach einer bitterkalten Nacht geht’s morgens aus dem Schlafsack in die gefrorenen Schuhe. Die warmen Sonnenstrahlen tun dem Gemüt unendlich gut.

Viertausender Nummer 80 und 81

Wir tun dort weiter, wo wir gestern aufgehört haben: beim Klettern. Immer anhaltend im zweiten und dritten Schwierigkeitsgrad, kurz auch im vierten, das wäre ja nicht allzu schwierig, wäre da nicht zwischen dem kalten Felsen der erst gefrorene und später aufgeweichte Schnee. Langsam, aber stetig kommen wir voran und erreichen endlich den ersten Gipfel am Grat, die Punta Baretti (Viertausender Nummer 80), seilen uns ab, traversieren in Flanken, klettern heikel hinunter und wieder hinauf, ehe wir auch auf dem Mont Brouillard stehen dürfen.

Von der Punta Baretti zum Mont Brouillard.

Von hier sehen wir den Anstieg zum nächsten Gipfel, den Pic Luigi Amedeo (oder wie die Franzosen sagen: Pointe Louis Amedée). Wir machen plötzlich große Augen, als die Seilschaft vor uns um Punkt Mittag die Isomatten ausbreitet und es sich am schönsten Bergtag in einer Felsnische gemütlich macht…

Zwangspause zur Mittagsstunde. Die Seilschaft vor uns.

Zu gefährlich! Biwak ab Mittag
Mist! Aber so sehr wir noch gerne weiterklettern würden, wir müssen uns eingestehen: Hier ist ein Weiterkommen zu gefährlich! Der Einstiegs-Kamin des Pic Luigi Amedeo ist zwar mit Eis bedeckt, aber gleicht in der Mittagssonne einem Wasserfall. Als Schlüsselstelle der Tour steht uns eine Mixed-Kletterei bevor, nur bei besten Verhältnissen im IV. Grad. Aber heute? Bei diesem 400-Höhenmeter-Aufschwung auf den letzten Viertausender für Marlies und den vorvorvorletzten 4000er dieser Tour kommt alles Schlechte von oben: Steinschläge und Wasserfälle. Die Rolling Stones sind in diesem Fall aber kein angenehmes Geräusch. Also richten wir uns im Col Emile Rey, knapp über der 4000er-Grenze, auf etwa drei Quadratmetern ein Biwak ein. Wir hoffen, dass die kalte Nacht wieder alles gefriert und die Bedingungen sicherer macht.

Biwak im Col Emil Rey.

Aber was, wenn dieser Plan nicht aufgeht? Notabstieg in Richtung Eccles-Biwak? Den ganzen Nachmittag haben unsere Gedanken Zeit zum kreisen.
Und dann kam der Hubschrauber

Schrecksekunde. Heli, was machst du hier?

Am frühen Nachmittag werden unsere kreisenden Gedanken von einem kreisenden Hubschrauber abgelöst. Er kommt näher. Und immer näher. Er wird doch nicht… Er wird leider doch! Die Seilschaft hinter uns ausfliegen! Vom Gipfel des Mont Brouillards hat eine halbe Stunde davor der Bergkamerad zu uns herüber gerufen, ob wir eine Ersatz-Sonnenbrille dabei hätten. Leider nicht…
Sonnenbrille weg? Schneeblind!
Wir hoffen, dass nur die verloren gegangene Sonnenbrille der Grund für ihre Bergung ist und erinnern uns, wie schmal dieser Grat auf so entlegenen Routen ist. Sonnenbrille weg – du wirst schneeblind. Feuerzeug hinüber – du verdurstest. Fällt ein Handschuh in den Graben – erfrieren deine Finger. Stürzt ein Eisgerät oder Steigeisen ab – Ende im Gelände. Alles kann so schnell gehen, und es kann den Besten passieren. Danke an die Rettungskräfte, die hier zur Stelle sind!

Respekt vor diesen Rettern!

Wie gelähmt beobachten wir keine 150 Meter von uns entfernt die Taubergung von diesem zackigen 4000er-Gipfel. Ein Déjà-Vu: Vor genau einem Jahr kletterten wir am gegenüberliegenden Peutereygrat und auch dort wurde die nachfolgende Seilschaft ausgeflogen. Ein mulmiges Gefühl. Es dauert ein wenig, bis man den Blick wieder nach vorne richten kann. Und was vor uns liegt, das schaut ja auch nicht sonderlich gut aus…

Ein Jahrhundert-Fund

Irgendwie schaffen wir es doch, den Nachmittag an diesem so wunderbar wilden Flecken Erde zu genießen. Unsere Kleidung und Schuhe trocknen in der prallen Sonne, so wird die Nacht gleich viel angenehmer. Und welchen Jahrhundert-Fund Andi hier macht! Er stößt unter einem Stein zufällig auf eine verrostete Dose – verrostet, aber immer noch heil. Er öffnet sie mit dem Eisgerät. Darin finden wir eine mit Bleistiftnotizen beschriebene Visitenkarte von G F Gugliermina. Als Andi rechts oben etwas Rost wegwischt, kommt eine Jahreszahl zum Vorschein. Kann das denn wirklich sein? 1899? Hat dieses Relikt hier so lange überdauert? Wir recherchieren später im Internet – und Volltreffer. Die Herrschaften G B und G F Gugliermina haben gemeinsam mit Natale Schiavi und Nicola Mozza vor 118 Jahren die erste Überschreitung des Col Emile Reys geschafft. Wegen ernsthaftem Steinschlag brauchten sie damals vier Biwaks an dieser Stelle, das lesen wir im „Alpine Journal“.

Nach der sternenklaren Nacht kommt das kalte Erwachen. Wir stopfen uns bei einer unfassbar schönen Morgendämmerung noch ein paar Löffel Porridge in den Mund.

Dafür lohnt es sich. Für Stimmungen wie diese.

Der Schlüssel für die Stelle

Wir sind gespannt, denn gleich geht’s in die Schlüsselstelle. Wir folgen unseren französischen Biwak-Nachbarn in den Kamin. Andi sucht mit seinem Eisgerät Halt im ersten vereisten Riss, legt einen Klemmkeil, der nicht halten will, kratzt mit einem Zacken des Steigeisens an einer kleinen Struktur im Fels. Der Pickel in der anderen Hand stochert zwischen dünnem Eis und Schotter. Er hält, es ist kalt, aber Marlies schwitzt am Stand. Herzklopfen. Aufatmen. Souverän klettert Andi über diese senkrechte Stufe. Marlies ist froh, gut gesichert nachsteigen zu dürfen und schafft mit einigen beherzten kombinierten Kletterzügen diese Schlüsselstelle auch ganz flott.

Die Crux der Tour.

Es bleibt steil, es wird brüchiger, der Schnee wird fauler, wir gewinnen Höhenmeter, dürfen aber die Konzentration nicht verlieren. Eine große Herausforderung am dritten Tag unserer Tour! Nur ganz selten ist das Gelände so einfach, dass wir einige unbehelligte Schritte setzen können.

Pic Luigi Amedeo. Endlich.

Der letzte Streich – zweiundachtzig

Irgendwann geht es zumindest auf diesem Felskoloss namens Pic Luigi Amedeo nicht mehr weiter aufwärts. „Ich gratuliere dir erst später“, sagt Andi mit einem liebevollen Lächeln. Gipfelkuss. Ein Happy End? Für wenige Sekunden flackert die Freude über Marlies’ 82. Viertausender auf, aber erlischt mit mit dem nächsten Windstoß, als wir die nächsten 300 Höhenmeter mit kombinierter Kletterei vor uns sehen. Das Ding ist noch lange nicht zu Ende. Vom Pic Luigi Amadeo gibt es keinen Abstieg, es geht weiter aufwärts bis zum Mont Blanc. Ein Riegel in den Mund und weiter geht’s…

Es bleibt höchst fordernd. Eine kurze kompakte Felsstufe im vierten Schwierigkeitsgrad. Ansonsten erreicht der Fels mittlerweile die Qualitätsstufe grottenschlecht. Viel davon rieselt zwischen Händen und Füßen in den Abgrund. Endlich. Der Grat legt sich zurück und ein Firn-Fels-Grat führt uns über den Mont Blanc de Courmayeur zum höchsten Punkt der Alpen.

Das kann leider nicht der Ueli Steck sein

Das gibt’s jetzt aber nicht… Oder? Ein Sologeher! Ein Typ schließt so schnell auf uns auf, dass er uns an Ueli Steck erinnert. Der kann es aber leider nicht mehr sein… Früh morgens rannte der Italiener in Courmayeur los, um 14 Stunden später nach dem Brouillardgrat auf dem Mont Blanc zu stehen. Der schwierigen Schlüsselstelle habe er aber immerhin eine ganze Stunde geschenkt, erzählt er uns. Wir trotten schwer beeindruckt von dieser Leistung vor uns hin, machen auf dem Mont Blanc im dichten Nebel das obligatorische Gipfelfoto (unser drittes gemeinsames auf den 4810 Höhenmetern) und steuern dem Bossesgrat entgegen.

Eine Trampelpfadspur ist dieser Normalweg heute, auf dieser wird der Abstieg fast zum Selbstläufer. Ein paar Tränen kullern über Marlies’ Wangen, schaffen wir es wirklich? Mit jedem Höhenmeter nimmt die Anspannung ab.

Bett statt Biwak

In der überfüllten Gouterhütte bekommen wir bereitwillig einen Schlafplatz, als wir erzählen, dass wir vom Brouillardgrat kommen. „I’m a Guide, I know what this means, congratulations“, sagt der Hüttenwirt. Mit dem Rucksack fällt endgültig die ganze Last der letzten Tage ab. Wir genießen die letzten Stücke von unserem Baguette und der Stange Wurst, leisten uns einen Krug Rotwein und sind überglücklich. Dazu die Belohnung, ausgestreckt in einem Bett schlafen zu können! Doch dann liegen wir mitten in der Nacht zwei Stunden hellwach, weil das Bettenlager so überhitzt und überfüllt ist wie der Strand an der italienischen Adriaküste. Übertönt wird alles von nervösen Gesprächen, lautem Geschnarche und nervigem Rucksack-Geraschel der Mont-Blanc-Aspiranten. Ach, wären wir doch wieder in einem ruhige Biwak irgendwo am Berg…

Einen Augenblick bitte…